Gefühlstiefe - Angst und Erlösung zugleich

Warum ist für uns Menschen das Erleben von tiefen Gefühlen so schwer, meist angstbesetzt, wird als nicht gewollt erlebt und treibt den Betroffenen oft in Fluchtverhalten und Vermeidungsstrategien, anstatt sich seinen tiefen Gefühlen zu stellen? Sind es doch die eigenen Gefühle. Und wir versuchen davon zu laufen? Wie paradox. Etwas, das IN mir existiert, in den Kisten meiner erlebten Erfahrungen weilt und auf ein Aufräumen, Sortieren und Weiterentwickeln wartet, wie sollte ich davor weglaufen können? Ja hat denn der Verstand nicht kapiert, dass die Kisten immer IN uns sind, egal wie weit weg wir laufen und in welche Ablenkung wir uns zeitweilens stürzen? Nein, hat er meist nicht. Weil er sie nicht wahrhaben will, sie verdrängt hat oder bewusst zu leugnen versucht. Weil sie ihn überfordern. Er meist keine Lösung hat, diese Situationen, welche zum Gefühlsoverload geführt haben, zu bewältigen.

 

Fachlich objektiv betrachtet immer noch kein Grund, vor den eigenen Gefühle und der eigenen Ohnmacht davonlaufen zu wollen. Denn einerseits war der Gefühlsoverload in Kindertagen. Die Situationen als kleines Ich vermeintlich ausweglos. Die Gefühle zu bedrohlich, zu belastend, zu intensiv für damals. Im Heute, als Erwachsener durchwegs meisterbar, aushaltbar und ein Fühlen, Zulassen und Integrieren sogar erleichternd, da das "Dagegen Kämpfen" ein Ende findet, abgespaltene Anteile integriert werden und der Mensch dadurch "ganzer" wird  und neue Handlungs- und Lösungswege sichtbar werden. 

Im Falle übernommener Gefühle und Ansichten von Vorfahren, die ebenso in uns wirken und sich - ohne weitere Kenntnisse der Möglichkeit differenzieren zu können - als ganz reale, eigene erlebte Gefühle und Gedanken anfühlen, ist die Aufgabe keine andere, als diese Muster weiterzuentwickeln, zu verändern und der heutigen Zeit und Stimmigkeit anzupassen. 

 

Was ist die Voraussetzung dafür? 

Die Gefühle anzunehmen. Sie zuzulassen. In der vollen Tiefe. In der vollen Wahrheit. Auf der Flucht vor seinem /ihrem  eigenen Erleben hat noch niemand ein Problem gelöst, noch nie eine Herausforderung gemeistert. Erst im Zulassen, dem Akzeptieren des Ist-Zustandes, fühlt sich dieser auch noch so bedrohlich an, erst dadurch kann Veränderung geschehen. In meinem Beispiel der "Kisten im Keller": Erst wenn ich erkenne und annehme, dass diese Kisten bereits DA sind, sie unaufgearbeitete Themen und Gefühle in sich bergen und ich den Mut habe, mich diesen Kisten achtsam, liebevoll jedoch steten Schrittes zu nähern, sie zu öffnen und überhaupt einmal zu schauen, was sich denn in ihnen versteckt, erst dann kann ich "ausräumen": Was gehört auf den Sondermüll, was kann noch verwendet werden, muss nur etwas restauriert werden und was benötigt Zuwendung und die Anwendung von neuem Knowhow, dass es zu etwas Neuem, Stimmigen wird und ein Gewinn fürs Leben bedeutet, weil es meinen tiefen Bedürfnissen entspricht.

 

Diese Kisten bergen wunderbare Schätze in sich. Sie zeigen Bedürfnisse auf. Meist noch in verdeckter, zerrütteter, nicht geformter Art und Ausdrucksweise. Doch wenn ich den Mut habe, die Schichten der Gefühle abzutragen, welche den Rohdiamanten darunter verdecken, so komme ich "ZU MIR". Zu dem, was ich wirklich bin. Denn auf diesen Kisten der Vergangenheit steht "streng geheim", "bedrohlich", "Achtung Gefahrengut" - doch nur, weil wir als Kinder bzw. unsere Vorfahren nicht wussten, wie mit diesen Inhalten umzugehen war. Heute können und wissen wir es. So wird aus den Kisten der Bedrohung eine potenzielle Schatzkiste, die Raum macht für die Fülle der gelebten Bedürfnisse. Und ebendiese sind nur in der Tiefe zu leben. Zu füllen. Greifbar. Wahrhaftig. 

 

Was ist das, was Du am meisten fürchtest in Dir? Das, was Du am meisten ablehnst von Dir?

Ich kann mich noch gut erinnern, als in frühen Jahren ein potenzieller "Beziehungsversuchs-Partner" zu mir sagte "Kuscheln und Telefonieren tust du schon gern". Autsch. Ich fühlte mich bewertet. Nein ich fühlte mich abgewertet. Ich hörte in diesen Worten Aussagen wie "zu emotional", "zu anhänglich", "zu wenig stark". Was auch immer er damit meinte oder seine Motivation war - Ich hörte diese Aussagen, da mir meine Gefühlswelt damals selbst noch zu anstrengend war. Ich war mir selbst zu emotional, zu sensibel, wollte härter, gefühlt stärker und anders sein. Meine Tiefe der Gefühlswelt, so dicht, so facettenreich, so intensiv, mein emotionales Erleben - wie ein zweites Universum mit Millionen von Galaxien und unendlichen Sternwelten - ich selbst war früher damit oft überfordert. Ja ich schämte mich sogar in Momenten dafür. Warum konnte ich nicht rationaler  sein? Warum musste ich mir alles so zu Herzen nehmen und so ein "Sensibelchen" sein? Warum muss ich soviel spüren und wahrnehmen und warum dreht sich denn alles in meinem Leben um das Thema "Gefühle, Liebe, Nähe, Verbundenheit", wenn diese Tiefen ja anscheinend für mich doch nicht zu erreichen sind? (So fühlte ich es damals). 

 

Erst Jahre später habe ich begriffen, dass das genau das ist, was mich ausmacht, ein Teil von dem ist, der MICH besonders macht. Dass es genau das ist, was  einen Teil meiner Fähigkeiten in sich bringt. Nicht das Telefonieren ;-), aber das WIE ich präsent bin, wie ich mit meinem offenen Herzen zuhöre, DA bin, emphatisch mitfühle, mit dem Herzen begreife und berühre und dadurch im Gegenüber bereits ein Prozess ausgelöst wird, der achtsam in der Tiefe beginnt. Und das "Thema Kuscheln" zeigte mein Bedürfnis nach wahrer Nähe mit Tiefe, nach dem vollen Einlassen als Ganzes, als die hingebungsvolle, weiche, sinnliche Frau, die ich bin. Ich lernte diese Welten erst zu schätzen, zu leben, zu lieben, als ich sie angenommen hatte. Als ich sie integriert hatte. Und dadurch wurden sie zu meinem größten Schatz. Ein Schatz, den ich tagtäglich schätze und dafür dankbar bin, ob in meiner Berufungswelt, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder einfach im privaten "Ich Sein". Es ist mein Schatz, der mich zu dem macht, was ich BIN, obwohl ich ihn lange Zeit abgelehnt hatte, weil er mich selbst überforderte und ich nicht wusste, wie ich mit diesen Tiefen und diesen intensiven Gefühlswelten umgehen sollte. 

 

Klar, diese Gefühlswelten sind nicht für Jedermann, nicht in allen Begegnungen lebbar. Doch das müssen sie auch nicht bzw. können sie jetzt, durch das Begreifen von mir und dem Leben ebendieser mit Struktur, auch situationsbedingt variiert werden. Auch in Dir wird es Welten geben, mit denen manche nichts anfangen können, überfordert sind, Angst bekommen oder sie nicht zu greifen bekommen. Das ist in Ordnung so. Denn dafür schätzen sie diejenigen umso mehr, die in Resonanz stehen. Weil sie die Wahrhaftigkeit spüren. Weil sie die Stimmigkeit suchen und sie in Deiner integrierten Gefühlswelt und Deinem wahren Sein finden.

 

Also was lehnst Du ab? Mit was haderst Du am meisten? Vielleicht birgt das deinen schönsten und wertvollsten Schatz in sich. 

Alles Liebe

Edith

 

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